Imaginary Soundscapes. Aspekte harmonischer Schwingung.

Zu den Bildern Ilse Chlans

Von Rebecca Schönsse

Es beginnt mit einer willkürlichen Disharmonie – Die Figur des Anfangs, die Ilse Chan auf der Leinwand entstehen lässt, führt über ein altes Klavier in der Ecke ihres Ateliers. Die Künstlerin lässt ihren Körper in die Tasten fallen. Der Tastenanschlag, der von hier aus das Atelier mit Klang füllt, formuliert subkutan das Thema der Arbeiten. Der Ton wird zu einer Art Körperabdruck. Diese „Tonspur“ erzeugt eine Klanglandschaft im Atelier, in welche die Arbeiten eintauchen, um sich dort einer Erkundung des Absichtslosen hinzugeben.

Die Reformulierung des Tons in Farbtöne und die aus der Bearbeitungstechnik erwachsenen Muster führen schließlich zu einem synästhetischen Erlebnis.
Die Bilder werden zu gemalten „sonic environments“. Chan entwirft dabei eine Ästhetik, die in Analogie zu der Klangkunst John Cages und der Minimal Music steht. Die Bilder werden zum Bezugspunkt einer generischen „soundscape“, die im Entstehungsprozess als akustischer Reiz eingesetzt wird und sich im Werk farblich materialisiert.

Die Erzählung des Schöpfungsaktes findet ihre Peripetie im Bild, bevor sie durch die markanten Horizontalen ausgelöscht wird, die die Werke ausnahmslos durchziehen. Diese Ton“schnur“ im Bild unterbricht als harte durchgezogene Linie abrupt den Erzählprozess. Das Bild als Ganzes wird so zur unterbrochenen Linie, deren Erzählhorizont in die Vergangenheit gesetzt ist. Erzählt wird in erster Linie vom Warten, in dem jeder neue Sinneseindruck Ereignis werden kann. Vom wartenden Hören auf den Klang, vom Warten auf das Trocken des Materials, vom Warten auf das sich aus diesem Prozess ergebene Muster, die Farbvermischung.
Jeder Vorgang wird selbst zum Grund, zum Horizont neuer Ereignisse. Schicht um Schicht wird in das Bild gewebt. Das Warten öffnet den Blick auf ein Durchscheinen. Der Gestaltungsprozess gerät zu einer rhythmischen Bewegung des Spannungsaufbaus, der immer wieder in Phase der Entspannung, des Wartens, pausiert. Er erscheint als ein Verpackungsvorgang, den der Betrachter anhand der „Schnur“ wieder aufzubinden hat, bis er „seinen“ Klang im Bild findet.

Blau und Gelb, die goethischen Grundtöne für Licht und Finsternis, begegnen sich hinter einer opaken Farbtextur. Chlan grundiert oft mit einem Hellblau, über das dann Gelb und später Magenta gesetzt werden. Zeitversetzt sind damit nicht nur die Farben, sondern auch die „Farblehren“, die sie repräsentieren. Der Widerstreit von Blau und Gelb rückt in die Distanz. Farbe und „farbiger Schatten“ scheinen auf eine Fläche gebunden und in eine Ebene gebracht.

Während diese Schichtung ein „durée“ synchronisiert, drückt die horizontale rechtslinks Bewegung der Strichführung eine Flüchtigkeit der Wahrnehmung aus. Diese Lesebewegung wird besonders durch die Querlininien unterstrichen. Reißt der Betrachter also die Verpackung aus der Distanz heraus an der „Paketschnur“ auf, ergiebt sich ein „Venturi“-Effekt: Die Bilder erscheinen als Momentaufnahmen einer „Imaginary Landscape“, die aus der Bewegung heraus aufgenommen wurde. Das Werk wird zum „Strip“. Als Supplement für eine entmaterialisierte Stadt wird eine Klanglandschaft materialisiert.

Hier entsteht eine Zäsur im Wahrnehmungsprozess. Der Betrachter wird eingeladen, Innezuhalten, den Kern des Bildes vorsichtig zu enthüllen, die kommenden „Strips“ nicht aufzureißen, sondern aus der Nähe zu „entwickeln“. Nur so lässt sich das Spannungsverhältnis des der perimeter-center Figur, die weder Grund noch Figur genau zu trennen vermag, zu entziffern. Das „Vor-das-Bild-Treten“ wird zum Annäherungsverfahren. Im „Zoom in“ kippt die Bildwahrnehmung unwillkürlich. Denn, ein „Close Reading“ der Bilder enthüllt eine ganz neue narrative Dimension. Denn eine nahe Betrachtung der Oberflächenstruktur erzählt von den zufälligen Ereignissen im Entstehungsprozesses. Schraffuren, Schmieren und Schlieren kreieren ihre eigenen Narrative, erzählen die Geschichte des Details. Sie werden zu Morphemen eines unleserlichen Worts, das durch das Werk selbst repräsentiert wird. Im Herantreten an die Bilder individualisieren sich diese Mikroelement, um sich mit jedem Schritt der Distanz wieder dem Ganzen zu übergeben.

Das jeweilige Distanzverhältnis des Betrachters zum Bild weist eine spannungsreiche mikro-makrokosmische rhythmische Struktur auf. Die Bildbetrachtung ermöglicht ein physisch-rhythmisches Aspektsehen, das an Wittgensteins Bemerkung erinnert: „Und ich muß zwischen dem „stetigen Sehen“ eines Aspekts und dem „Aufleuchten“ eines Aspekts unterscheiden“ (Suhrkamp, S. 520, Teil II PU). In der Betrachterbewegung zum Werk, wird der Rezipient zum Kritiker dieses Aspektsehens. Die Horizontallinie wird zum Maßstab des Unterscheidens, zur „Urteilskraft“ im Bild, an der sich das Nah-Fern-Verhältnis bricht, wie das Aufleuchten der jeweiligen Bild-Ton-Dimensionen.
Es ist dabei nicht nur ein bildlich-räumliches Aspektsehen indiziert, sondern auch ein zeitliches. Zum Einen wird der Betrachter aufgefordert sich in der Zeit zum Bild zu bewegen, zum Anderen stellt das Werk selbst einen sich in der Zeit vollziehenden Vorgang, eine Schwingung, dar: Im Hinblick auf die zeitliche Dimension des Werkwerdens und darin implizit der Stilaspekte, die mal als impressionistisch und mal als abstrakt aufleuchten; im Hinblick auf die Darstellung einer in unbestimmter Zeit zurückgelegter Strecke von „perimeter“ zum „center“ jenseits der Leinwand und schließlich im Hinblick auf in der Oberfläche implizite zeitliche Struktur.
Diese Überlagerung von Dauer und Geschwindigkeit wird zur Meditation, mit dem Ziel, in der Betrachtung, die Zeit zum Stillstand zu bringen.
Die Disharmonie, die einst vom Klavier aus die Leinwand im Atelier umhüllte, weicht einer harmonischen Schwingung. Die Amplitude der „Töne“ bestimmt die time-pattterns. Das Werk schichtet Zeitsedimente, die sich als Klanglichter zu Mustern zusammensetzten. Sie formulieren die Sehnsucht nach Zeitenthobenheit. Die Erkundung dieser Muster führt auf einen Weg, der die beschleunigte Wahrnehmung der Klangstruktur im Bildton zu entschleunigen vermag. Chans Werke werden somit zu Sinnbildern meditativer Klanglandschaften, die sich dem Rausch des Vorwärtsdrängens widersetzen, indem sie das Vorwärts schnüren, bis es als Farbdämmerung brechend im Bildraum zerfließt.