wirklich wahr

Es gehört zu den Besonderheiten der privaten Fotografie, dass sie sich gegen Übergriffe von außerhalb zu schützen sucht. Denn die Bilder des Privaten sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Damit diese sich nicht für die Knipser interessiert, wird das Mittel der Täuschung angewendet, wozu die Fotografie ja in besonderem Maße geeignet ist. Dazu gehören vor allem:
• eine stereotyp wirkende Inszenierung, die den Eindruck erweckt, alle Bilder würden gleich aussehen;
• allerlei Missgriffe wie falsche Belichtung, verwackelte Aufnahmen, Doppelbelichtungen, Anschneiden des eigentlichen Motivs, wodurch die Ergebnisse als misslungen angesehen werden und keine Beachtung erfahren;
• Alben und Abzüge, die nicht beschriftet werden, so dass ein Außenstehender sie nicht einzuordnen weiß.
Insbesondere diese und weitere Barrieren, mit denen sich das Private umgibt, bilden das Spielfeld der Künstlerinnen und Künstler, die sich den Produkten der Knipser zuwenden. Zur heutigen Ausstellung will ich einige Aspekte herausgreifen.
Willy Puchner nimmt die Erstarrungen in den Posen auf und wendet die Haltungen gewissermaßen ins Positive. Alle diese privaten Zeugnisse der Vergangenheit seien – als Fotografien – Nachweise des Überlebens und als solche Belege für unser heutiges Dasein. Indem ich mich mit ihnen auseinander setze, geht das Vergangene auf in einem Jetzt, im augenblicklichen Tun, in den Blicken auf die Bilder, mit denen wir uns unserer Gegenwart, also unseres Daseins vergewissern. Was wie „eine Art Fossil“ – so der Titel der Arbeit – erscheint, das aus der Vergangenheit über uns kommt, kann zugleich eine Quelle der Erfahrung bilden, aus der sich die Gegenwart speist.
Die Hingabe von Menschen, sich einen eigenen Bilderkosmos zu errichten und ihn vor neugieriger Zumutung zu verbergen, reizt manch einen, einen Blick hinter die Sichtblenden der Anonymität zu werfen. Johannes Stoll ist auf dem Flohmarkt ein Konvolut privater Fotografien aufgefallen. Er hat den auf dem Boden liegenden Haufen fotografiert, zeigt heute Teile daraus sowie seine Auseinandersetzung mit dem Fund. Bei einer der enthaltenen Aufnahmen handelt es sich um eine professionelle Arbeit aus dem Atelier des Baruch Kern in Meidling. Im Internet ist Stoll diesem Fotografen nachgegangen und hat herausgefunden, dass er als Jude 1942 deportiert worden ist. So verbinden sich in dem Bild die Schicksale einer Zeitgenossin, die nicht mehr unter den Lebenden weilt, mit jenem ihres Porträtisten, der von den Nationalsozialisten ermordet worden ist, sowie mit dem Finder der Aufnahme, der diese zweifache Verbindung offen legt – und mit unserem, weil wir schaudern und gezwungen sind, uns einer monströsen Vergangenheit zu erinnern.
Auch Eva Brunner-Szabo hat eine Spur verfolgt. Auf einer anonymen Knipseraufnahme von etwa 1944, die eine Gruppe Juden während der Deportation in Közseg, dem früheren Güns, zeigt, hat Hans Deutsch Teile seiner Familie erkannt. Seine Eltern sind umgekommen, während er selbst nach Argentinien hat emigrieren können, wo ihn die Künstlerin aufgesucht hat. 2003 ist er gestorben, und im Jahr darauf hat Eva Brunner-Szabo in Lanzarote von ihm Abschied genommen, indem sie eine Reproduktion des Bildes dem Meer überantwortet hat. Wie der Abzug nach und nach von den Wellen weggespült wird, hat sie fotografiert und sechs Aufnahmen hier ausgestellt. Was wie eine pathetische Geste anmutet, enthält jedoch den Hinweis, dass die Beschäftigung mit der Geschichte einer Region, einer Familie, einer Person bedeutet, dass man in diese eintritt, zu ihrem Teil wird, sich die künstlerischen Interessen mit den privaten der Menschen verschränken und als Werk eine neue Geschichte begründen.
Die Kommunikation mit privaten Bildern hat auf ganz andere Weise Ilse Chlan thematisiert. Während eines mehrjährigen Aufenthalts in Portugal schickte der Vater eigene Aufnahmen an die Tochter, um ihr vom heimatlichen Geschehen zu berichten. Dazu zählten beispielsweise ebenso Ausschnitte aus Fernsehsendungen wie Ansichten von Eisenstadt. Verwendet wurde eine Kamera mit einem Zusatz, der das jeweilige Aufnahmedatum ins Bild überträgt. Die Skala, die man einstellen musste, reichte lediglich bis zum Jahr 1989 – das Jahr, in dem der Vater sterben sollte. Doch der seltsame Zufall birgt den Hinweis auf den Umgang mit Geschichte: Der Historiker neigt dazu, das Akzidentielle in den Knipserarbeiten aufzuheben, sie in Zeit und Raum zu fixieren, zu identifizieren, was zu sehen und zu eruieren ist. Die Künstlerin lässt dem Zufälligen sein Spiel, stellt Bilder gegenüber, wobei es ihr auf die Geschichten ankommt, die eine zufällige Konstellation hervorbringen und die sich die Betrachter zusammenreimen oder einfach erfinden können.
Es muss dabei, was die bildlichen Konfrontationen von Angela Schwank zum Ausdruck bringen, nicht um zeitlich entfernte Momente gehen. Ihre Großeltern haben unter anderem sich selbst mittels Selbstauslöser, im Automaten oder auch gegenseitig fotografiert. Dieses Auftreten in einem Album als Paar, noch dazu im fortgeschrittenen Alter, ist ungewöhnlich und provoziert mehrere Fragen: Sind die Bilder Zeichen einer glücklichen Beziehung, derer man sich immer wieder versichern mochte? Oder wurde aus einer einmal aus einer Laune heraus getroffenen Inszenierung ein gängiges Ritual, wie ja auch das langjährige Miteinander von Menschen zu eingefahrenen Verhaltensmustern führt? Die tatsächlichen Beziehungen zwischen Menschen geben Fotografien nicht frei, denn diese markieren nur die Oberfläche der Erscheinungen. Indem aber bestimmte Anordnungen in Bildern gegeneinander gestellt werden, wird die Fantasie des Betrachters beflügelt, der assoziativ Verbindungen herstellt und sich eine eigene Geschichte ausmalt, die sich manchmal durchaus gegen den Anschein der Bilder stellen mag.
Diese Undurchsichtigkeit der privaten Bildwelt greift auch Brigitte Konyen auf, wenn sie Aufnahmen ihrer nächsten Familienmitglieder reproduziert samt beziehungsweise hinter dem Spinnenpapier, das zwischen die Blätter manch früherer Alben eingeschoben ist. Die vergrößerten Wiedergaben heben ab auf die gleichartigen Darstellungs- und Präsentationsweisen der privaten Fotografie. Die Porträts mögen für jene Sichtweise stehen, die sich mit der Herausstellung der Ähnlichkeit von Vorbild und Bild begnügt; die gleiche Größe der Abzüge für die Unterordnung unter die Gebote industrieller Optimierung; das halb transparente Papier für eine Durchsichtigkeit, die mehr verschleiert als verdeutlicht; das Muster des Spinnennetzes nicht zuletzt für unseren Blick, der die privaten Bilder der anderen immer nur durch den gleichen Raster zu sehen vermag – und alles zusammen für die Traditionen familiärer Verhältnisse, ihrer bildlichen Darstellung und ihrer Rezeption.
Worauf die heute hier präsentierten Werke uns bei aller Unterschiedlichkeit der Betonungen und angewendeten Mittel bringen: Die Bilder des Privaten – ob der eigenen Familie oder unbekannter Personen – locken zu Nachforschungen, zu Interpretationen, zu Rekonstruktionen; sie regen an, vergangenen Gegebenheiten nachzugehen oder neue Geschichten zu konstruieren. Vor allem aber wird man bei der Auseinandersetzung mit ihnen immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, auf die eigene Geschichte, auf die offenen Fragen, die sich uns täglich stellen und unsere Gegenwart bestimmen.

Timm Starl
Galerie Geyling, Wien am 20. November 2008